Das digitale Echo des Verlusts: Eine klinische und forschungsbasierte Analyse der Mediennutzung in der Trauerbewältigung
Einleitung
Die Frage, ob es für die Trauerbewältigung förderlich ist, alte Videoaufnahmen, Fotos oder Sprachnachrichten von Verstorbenen zu betrachten, berührt einen zentralen Aspekt des Trauerns im 21. Jahrhundert. In einer Epoche, in der digitale Archive unser Leben lückenlos dokumentieren, sind Erinnerungen nicht mehr nur flüchtige mentale Konstrukte, sondern greifbare, jederzeit abrufbare Datenpunkte.1 Diese technologische Realität stellt Hinterbliebene vor ein tiefgreifendes Dilemma. Einerseits können diese digitalen Andenken eine Quelle tiefen Trostes und eine Brücke zur fortwährenden Verbindung mit dem geliebten Menschen sein. Andererseits bergen sie das Potenzial, zu einem Anker in der Vergangenheit zu werden, der eine gesunde Anpassung an den Verlust erschwert und im Extremfall sogar zum Symptom einer klinisch relevanten Störung wird.3
Dieser Bericht liefert eine umfassende, forschungsbasierte Analyse dieses Paradoxons. Er beleuchtet die psychologischen Mechanismen, die dem Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit diesen Medien zugrunde liegen, und analysiert die spezifischen Wirkungen unterschiedlicher Formate – von statischen Bildern und Texten bis hin zu dynamischen Video- und Tonaufnahmen. Ein zentraler theoretischer Rahmen hierfür ist die „Continuing Bonds“-Theorie (Theorie der fortbestehenden Bindungen), die das moderne Verständnis von Trauer maßgeblich prägt. Sie legitimiert das Bedürfnis, eine Verbindung zum Verstorbenen aufrechtzuerhalten, anstatt sie zu kappen.
Die Analyse wird jedoch über die individuelle Praxis hinausgehen und diese in den breiteren Kontext der digitalen Trauerkultur einbetten. Dies schließt die Rolle von sozialen Netzwerken als öffentliche Trauerräume sowie die aufkommende „Grief Tech“-Industrie mit ihren KI-gestützten Avataren und Chatbots mit ein. Ziel dieses Berichts ist es, nicht nur eine Antwort auf die gestellte Frage zu geben, sondern ein differenziertes Verständnis zu schaffen, das Hinterbliebenen hilft, einen bewussten, heilsamen und selbstbestimmten Weg im Umgang mit dem digitalen Echo des Verlusts zu finden.
Abschnitt 1: Die psychologische Landschaft der Trauer: Von „Loslassen“ zu „fortbestehenden Bindungen“
Um die Rolle digitaler Medien in der Trauerbewältigung zu verstehen, ist es unerlässlich, zunächst die grundlegenden psychologischen Konzepte von Trauer zu beleuchten. Das wissenschaftliche Verständnis hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich gewandelt – weg von starren Phasenmodellen hin zu einem dynamischeren und individuelleren Ansatz, der die fortwährende Beziehung zum Verstorbenen in den Mittelpunkt rückt.
1.1 Ein Paradigmenwechsel im Verständnis von Trauer
Lange Zeit dominierten Modelle die Trauerpsychologie, die den Prozess als eine lineare Abfolge von Phasen beschrieben, deren Ziel die vollständige Loslösung vom Verstorbenen war. Das bekannteste Beispiel ist das Fünf-Phasen-Modell von Elisabeth Kübler-Ross, das ursprünglich zur Beschreibung der Auseinandersetzung Sterbender mit dem eigenen Tod entwickelt wurde. Solche Modelle implizierten, dass eine „erfolgreiche“ Trauerarbeit im „Loslassen“ oder in der „Akzeptanz“ mündet, was oft als emotionaler Abschluss und die Bereitschaft, neue Bindungen einzugehen, interpretiert wurde.5
Die moderne Trauerforschung erkennt jedoch an, dass Trauer kein linearer Prozess ist, der abgeschlossen wird. Stattdessen wird sie als ein komplexes, oszillierendes und zutiefst individuelles Geschehen verstanden, das ein Leben lang andauern kann.5 Dieser Wandel im Verständnis schafft die Grundlage dafür, die fortwährende Beschäftigung mit Erinnerungen – und damit auch mit Fotos oder Videos – nicht per se als problematisch, sondern als potenziell wichtigen Teil des Prozesses zu betrachten.
1.2 Die „Continuing Bonds“-Theorie: Ein moderner Rahmen für Verbundenheit
Den zentralen theoretischen Rahmen für das heutige Verständnis liefert die „Continuing Bonds“-Theorie, die in den 1990er Jahren von Dennis Klass, Phyllis Silverman und Steven Nickman entwickelt wurde.5 Diese Theorie stellt einen radikalen Bruch mit der Idee des notwendigen Loslassens dar und legitimiert den tiefen menschlichen Impuls, auch nach dem Tod eine Verbindung zum geliebten Menschen aufrechtzuerhalten.
Die Kernannahmen der Theorie sind:
- Transformation statt Trennung: Das Ziel der Trauer ist nicht, die Bindung an den Verstorbenen zu kappen, sondern sie zu transformieren. Die Beziehung wandelt sich von einer auf physischer Präsenz basierenden zu einer, die auf Erinnerungen, inneren Dialogen und symbolischer Verbundenheit beruht.6
- Normalität und Anpassung: Diese fortwährende Bindung ist kein Zeichen von pathologischer Trauer, sondern ein normaler, gesunder und adaptiver Teil des Bewältigungsprozesses.8 Sie hilft Trauernden, den Verlust in ihr fortlaufendes Leben zu integrieren.11
- Vielfältige Ausdrucksformen: Die Theorie erklärt eine breite Palette von Verhaltensweisen, die Trauernde zeigen. Dazu gehören das Führen von inneren Gesprächen mit dem Verstorbenen, das Aufbewahren von Erinnerungsstücken, die Fortführung gemeinsamer Rituale und – für diesen Bericht von zentraler Bedeutung – das Betrachten von Fotos und Videos.5
Im digitalen Zeitalter finden diese Verhaltensweisen neue Ausdrucksformen. Soziale Netzwerke, Online-Gedenkseiten und die auf unseren Geräten gespeicherten digitalen Archive sind die modernen Werkzeuge zur Pflege dieser fortbestehenden Bindungen.9 Eine Facebook-Gedenkseite kann beispielsweise alle vier von Klass und Walter beschriebenen Trauerprozesse unterstützen: die Präsenz des Verstorbenen zu spüren, mit ihm zu sprechen, ihn als Ratgeber zu erfahren und über ihn zu sprechen.9 Die Auseinandersetzung mit digitalen Medien ist somit oft ein direkter Ausdruck des Bedürfnisses, eine fortbestehende Bindung zu leben und zu gestalten.
1.3 Wenn Trauer pathologisch wird: Die Anhaltende Trauerstörung
Obwohl die fortwährende Bindung ein gesundes Phänomen ist, gibt es eine klinische Schwelle, an der die Beschäftigung mit dem Verlust pathologische Züge annimmt. Die Anhaltende Trauerstörung (im Englischen Prolonged Grief Disorder, PGD), die kürzlich als eigenständige Diagnose in das internationale Klassifikationssystem ICD-11 aufgenommen wurde, beschreibt einen solchen Zustand. Die Abgrenzung ist entscheidend, um die Frage zu beantworten, wann die Nutzung von Medien „förderlich“ und wann sie schädlich ist.
Die diagnostischen Kriterien der Anhaltenden Trauerstörung umfassen unter anderem:
- Eine intensive und andauernde Sehnsucht nach der verstorbenen Person.
- Eine anhaltende und intensive Beschäftigung mit dem Verstorbenen, die von starkem emotionalem Schmerz (z. B. Traurigkeit, Schuld, Wut) begleitet wird.3 Diese Beschäftigung kann sich explizit im ständigen Ansehen von Fotos oder Videos äußern.3
- Schwierigkeiten, den Tod zu akzeptieren, emotionale Taubheit und das Gefühl, einen Teil von sich selbst verloren zu haben.
- Eine deutliche Beeinträchtigung der Fähigkeit, am sozialen Leben teilzunehmen, neue Pläne zu schmieden oder Freude zu empfinden.3
Die entscheidende Erkenntnis liegt hier in der Nuance: Das gleiche Verhalten – das Betrachten eines Fotos – kann sowohl Teil einer gesunden, fortbestehenden Bindung als auch Symptom einer lähmenden Störung sein. Der Unterschied liegt nicht im Akt selbst, sondern in seiner Funktion, Frequenz, Intensität und Auswirkung auf die Fähigkeit der trauernden Person, sich wieder dem eigenen Leben zuzuwenden.3 Während eine gesunde Bindung die Erinnerung in ein neues Leben integriert, hält die pathologische Beschäftigung die Person in der Vergangenheit gefangen. Die Relevanz dieses Themas in der klinischen Praxis wird durch bundesweite deutsche Studien zur Anhaltenden Trauerstörung, beispielsweise an der Goethe-Universität Frankfurt und der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, unterstrichen.17
Dieser psychologische Rahmen – das Spannungsfeld zwischen dem legitimen Bedürfnis nach fortbestehender Bindung und der Gefahr einer pathologischen Fixierung – bildet die Grundlage für die folgende detaillierte Analyse der verschiedenen digitalen Medienformate.
Abschnitt 2: Die Rolle statischer digitaler Medien in der Trauerbewältigung (Fotografien und Texte)
Statische Medien wie Fotografien und Textnachrichten sind oft die unmittelbarsten und am leichtesten zugänglichen digitalen Überreste einer verstorbenen Person. Ihre Wirkung auf den Trauerprozess ist ambivalent und reicht von tiefem Trost bis hin zu erheblichem psychischem Leid. Die Forschung der letzten Jahre hat hierbei komplexe und teils kontraintuitive Mechanismen aufgedeckt.
2.1 Die Psychologie des Betrachtens von Fotografien Verstorbener
Fotografien fungieren als kraftvolle Anker der Erinnerung. Sie machen Vergangenes sichtbar und können eine Brücke zu der Person schlagen, die nicht mehr physisch anwesend ist.
Fotografien als Brücke zu Erinnerung und Verbindung (Die Vorteile)
Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen die positive Funktion von Fotografien im Trauerprozess. Eine Studie zeigte, dass das Betrachten digitaler Fotos Trauernden dabei hilft, sich an den Alltag mit der verstorbenen Person zu erinnern, ihre Persönlichkeit wiederzuerkennen und ein Gefühl der Nähe und Verbundenheit herzustellen.19 Dieser Effekt kann besonders heilsam sein, wenn die letzte Lebensphase von Krankheit und Leid geprägt war, da Fotos aus gesünderen Zeiten ein positiveres Gesamtbild wiederherstellen können.19
Wenn andere Sinneserinnerungen wie Geruch oder die Haptik einer Umarmung mit der Zeit verblassen, bieten Fotos eine konkrete, visuelle Bestätigung der Existenz und Präsenz des geliebten Menschen.20 Sie können Trauernden auch ermöglichen, bisher unbekannte Facetten der Persönlichkeit des Verstorbenen zu entdecken oder verpasste Lebensabschnitte nachzuvollziehen, was zur Rekonstruktion der Biografie beiträgt und die Trauer lindern kann.19 Die Betrachtung von Bildern, die ein glückliches und erfülltes Leben dokumentieren, kann für Hinterbliebene eine große Beruhigung sein.19 In therapeutischen Kontexten hat sich der Einsatz von Fotografien als wirksames Instrument erwiesen, um Trauer zu verarbeiten, sich an den Verlust anzupassen und die eigene Identität neu zu definieren. Sie können positive Emotionen wie Liebe, Stolz und Freude hervorrufen.21
Fotografien als Quelle von Schmerz (Die Risiken)
Gleichzeitig sind Fotografien extrem potente Auslöser für Trauerreaktionen (sog. „Grief Trigger“). Insbesondere in der frühen Phase der Trauer kann der Anblick eines Bildes unerträglich sein.20 Viele Menschen entscheiden sich bewusst dafür, Fotos für eine gewisse Zeit wegzupacken, um sich vor dem überwältigenden Schmerz zu schützen.20 Der Anblick eines Fotos kann intensive Traurigkeit, „Sturzfluten der Trauer“ und sogar Panikattacken auslösen.20
Eine interessante Unterscheidung ergibt sich aus dem Vergleich von digitalen und physischen Fotos. Eine Studie deutet darauf hin, dass digitale Bilder auf einem Bildschirm als weniger „real“ empfunden werden können und eine geringere emotionale Resonanz hervorrufen als das haptische Erlebnis, ein gedrucktes Foto in den Händen zu halten.23 Die physische Präsenz des Objekts scheint die Kontemplation zu fördern, während das flüchtige Betrachten auf einem Bildschirm eine distanziertere Erfahrung schaffen kann. Diese Flüchtigkeit des Digitalen kann die tiefe, verarbeitende Auseinandersetzung mit dem Verlust erschweren.
Die klinische Nuance: Wenn positive Bilder maladaptiv werden
Die vielleicht wichtigste und zugleich kontraintuitivste Erkenntnis der neueren Forschung ist, dass gerade „glückliche“ Bilder den Trauerprozess verkomplizieren können. Die einfache Annahme, dass positive Bilder zu positiven Gefühlen führen, trifft auf komplexe Trauerverläufe nicht immer zu.
- Die Boelen & Huntjens-Studie (2008): In einer explorativen Studie stellten die Forscher fest, dass zwar aufdrängende Bilder (Intrusionen) bei Trauernden häufig sind, aber eine höhere Frequenz von positiven aufdrängenden Erinnerungen an den Verstorbenen spezifisch mit einer höheren Ausprägung von Symptomen der komplizierten Trauer korrelierte – nicht jedoch mit Symptomen von Depression oder Angst.24 Dies deutet darauf hin, dass das wiederholte, unfreiwillige Aufkommen schöner Erinnerungen ein Risikofaktor für eine pathologische Trauerentwicklung sein kann.
- Studien zur Anhaltenden Trauerstörung (PGD): Forschungen im Kontext der PGD, wie die von Baddeley et al. (2015), untermauern diesen Befund. Patienten mit PGD erleben sowohl positive als auch negative mentale Bilder signifikant häufiger als gesunde Trauernde.24 Insbesondere Vorstellungen einer Wiedervereinigung (Reunion Imagery), die durch das Betrachten glücklicher Fotos ausgelöst werden können, scheinen die intensive Sehnsucht und das Verlangen zu fördern, welche die Kernsymptome der PGD darstellen.24
Der zugrundeliegende Mechanismus wird als „emotionaler Verstärkereffekt“ beschrieben: Mentale Bilder haben eine stärkere emotionale Wirkung als rein verbale Gedanken.24 Ein positives Bild, etwa von einem gemeinsamen Urlaub, kann im ersten Moment Trost spenden. Für eine Person mit einer Prädisposition für PGD wird dieses Bild jedoch schnell zu einer schmerzhaften Konfrontation mit dem, was unwiederbringlich verloren ist. Die positive Erinnerung verstärkt das Gefühl des Mangels und der Sehnsucht, anstatt es zu lindern. So wird ein scheinbar positiver Reiz zu einem maladaptiven Faktor, der die Trauer aufrechterhält und fixiert, anstatt ihre Verarbeitung zu fördern.
2.2 Die Vergangenheit nachlesen: Die Wirkung von Textnachrichten und E-Mails
Das erneute Lesen alter Textnachrichten, beispielsweise in WhatsApp-Chats, oder von E-Mails ist eine weit verbreitete Praxis unter Trauernden.28 Auch hier zeigt sich eine duale Wirkung.
Einerseits bewahren diese schriftlichen Konversationen die einzigartige „Stimme“, den Humor und die Persönlichkeit des Verstorbenen. Sie können Trost spenden und sind ein greifbarer Beweis für die einstige Beziehung und die gegenseitige Zuneigung.29 Sie sind ein digitales Archiv der geteilten Intimität.
Andererseits kann die Konfrontation mit diesen Texten extrem schmerzhaft sein. Die letzte, unbeantwortete Nachricht in einem Chatverlauf ist eine unmissverständliche und brutale Erinnerung an die Endgültigkeit des Verlusts.30 Das Wiederlesen von Nachrichten, in denen der Verstorbene vielleicht von Schmerz, Sorgen oder Konflikten berichtet hat, kann bei den Hinterbliebenen intensive Schuldgefühle und Bedauern auslösen („Hätte ich doch...“).29 Ein zusätzlicher, spezifisch digitaler Schmerzmoment kann entstehen, wenn Plattformen wie WhatsApp inaktive Profile nach einer gewissen Zeit automatisch löschen. Dieser Akt kann von den Hinterbliebenen wie ein zweiter, endgültiger Verlust der Person empfunden werden.30
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass statische Medien wie Fotos und Texte mächtige Werkzeuge im Trauerprozess sind. Ihre Nützlichkeit hängt entscheidend davon ab, ob sie zur Integration der Erinnerung in ein fortlaufendes Leben genutzt werden oder ob sie zu einer fixierten, schmerzhaften und sehnsuchtsvollen Beschäftigung mit der Vergangenheit führen.
Abschnitt 3: Die immersive Kraft dynamischer digitaler Medien (Stimme und Video)
Während statische Medien wie Fotos und Texte eine visuelle oder kognitive Verbindung zur Vergangenheit herstellen, besitzen dynamische Medien – Sprachnachrichten und Videos – eine weitaus größere immersive und emotionale Kraft. Sie reaktivieren nicht nur die Erinnerung, sondern simulieren die sensorische Erfahrung der Präsenz des Verstorbenen auf eine Weise, die tiefgreifende, oft überwältigende Reaktionen hervorrufen kann.
3.1 Die Stimme wieder hören: Die Wirkung von Sprachnachrichten und Audioaufnahmen
Für viele Hinterbliebene ist die Stimme einer der intimsten und prägendsten Aspekte einer Person. Die Angst, diesen Klang zu vergessen, ist eine verbreitete und tief sitzende Sorge im Trauerprozess.31 Digitale Audioaufnahmen – seien es gespeicherte Mailbox-Nachrichten oder Sprachnotizen – werden daher zu unschätzbar wertvollen Artefakten.
Die Stimme als emotionale Lebenslinie
Die Stimme ist untrennbar mit Emotionen und Erinnerungen verknüpft. Ihren Klang zu hören, kann ein unmittelbares Gefühl von Trost, Nähe und fortwährender Präsenz vermitteln.31 Viele Menschen bewahren Sprachnachrichten über Jahre hinweg auf, betrachten sie als „unschätzbare Schätze“ und hören sie gezielt in Momenten der Trauer an, was als eine Form der Selbsttherapie und als Quelle des Trostes empfunden werden kann.33 Die Aufnahmen dienen als Anker, wenn andere Erinnerungen zu verblassen drohen, und wirken der Angst entgegen, eine wesentliche Verbindung zur verstorbenen Person zu verlieren.31
Ein bittersüßes Echo
Die Erfahrung des Hörens wird von Betroffenen fast ausnahmslos als „bittersüß“ beschrieben. Dem tiefen Trost, die vertraute Stimme zu hören, steht eine ebenso intensive Traurigkeit und ein rohes Bewusstsein für die Unwiderruflichkeit des Verlustes gegenüber.22 Viele berichten, dass sie bei jedem Anhören weinen, es aber dennoch als einen notwendigen und wichtigen Teil ihres Trauerprozesses ansehen.35 Die Stimme ruft nicht nur die Person ins Gedächtnis, sondern auch den Schmerz ihres Fehlens.
Die entscheidende Rolle der Bereitschaft
Aus den zahlreichen persönlichen Erfahrungsberichten kristallisiert sich ein klares Muster heraus: Die bewusste Entscheidung und das Gefühl der „Bereitschaft“ sind entscheidend für eine heilsame Auseinandersetzung. Trauernde betonen, wie wichtig es ist, sich für das Anhören einen geschützten Raum und Zeit zu nehmen, um die aufkommenden, oft starken Emotionen zulassen und verarbeiten zu können.22 Der Versuch, sich zum Anhören zu zwingen, wenn man sich emotional nicht stabil genug fühlt, kann kontraproduktiv sein und den Schmerz unnötig verstärken.
3.2 Videos ansehen: Leben und Verlust wiedererleben
Videos steigern die immersive Erfahrung noch weiter, indem sie Bewegung und Kontext hinzufügen. Sie reanimieren nicht nur die Stimme, sondern auch die Mimik, Gestik und die Interaktion der Person mit ihrer Umwelt.
Die heilende Kraft der Re-Immersion
Das Ansehen von Heimvideos kann eine tröstliche Methode sein, um Emotionen zu verarbeiten, glückliche Momente wiederzuerleben und sich der verstorbenen Person nahe zu fühlen.22 Es ermöglicht das gemeinschaftliche Teilen von Erinnerungen innerhalb der Familie und kann insbesondere für jüngere Generationen eine Brücke schlagen, um Großeltern oder andere Verwandte, die sie nie oder nur flüchtig kannten, „kennenzulernen“.20
Das Risiko der Retraumatisierung und Überwältigung
Die hohe emotionale Intensität von Videos birgt auch erhebliche Risiken. Ähnlich wie bei Sprachnachrichten kann das Betrachten von Videos zu überwältigenden Gefühlen führen, die bis zu Panikreaktionen reichen und die Betroffenen zwingen, das Video abzubrechen.22
Ein spezifisches Forschungsfeld befasst sich mit dem Ansehen von Aufzeichnungen von Trauerfeiern. Während einige dies als „großen Trost“ empfinden, da sie die Zeremonie aus einer anderen Perspektive erleben und sehen können, wer alles zur Unterstützung anwesend war, empfinden andere es als makaber oder befremdlich. Es erfordert eine erhebliche emotionale Stabilität, sich diesen Aufnahmen auszusetzen.36 Die technische Qualität der Aufnahme spielt dabei eine wesentliche Rolle; eine schlechte Aufnahme kann mehr Leid als Trost verursachen. Die Forschungslage zu den langfristigen Vor- und Nachteilen des Wiederansehens von Trauerfeiern ist noch dünn, und es bleibt unklar, ob diese Praxis das „Weiterkommen“ eher fördert oder behindert.36
Die psychologische Wirkung von Todesdarstellungen in Medien ist ebenfalls relevant. Forschungen im Rahmen der Terror-Management-Theorie legen nahe, dass die Konfrontation mit dem Tod, selbst in fiktionalen Formaten, die kognitive Zugänglichkeit von Todesgedanken erhöht und Abwehrmechanismen wie eine verstärkte Hinwendung zu materialistischen Werten auslösen kann.37
Ein tiefergehendes Verständnis der Wirkung dynamischer Medien offenbart ein fundamentales Paradoxon der digitalen Erinnerungskultur: Die Technologie ermöglicht uns eine perfekte Konservierung von Momenten. Eine Sprachnachricht oder ein Video bleibt eine unveränderte, exakte Kopie eines vergangenen Augenblicks.22 Während dies einerseits tröstlich ist, könnte genau diese digitale Permanenz 38 den natürlichen Prozess der Erinnerungstransformation in der Trauer erschweren. In der Vergangenheit veränderten sich Erinnerungen an eine Stimme oder eine Geste mit der Zeit, wurden weicher, unschärfer und integrierten sich in das Gesamtgedächtnis. Die perfekte digitale Replikation hält jedoch die sensorische Erfahrung der Präsenz der Person künstlich „am Leben“ und könnte so im Widerspruch zur kognitiven Akzeptanz des Todes stehen. Diese andauernde Dissonanz zwischen dem, was man sieht und hört, und dem, was man weiß, könnte theoretisch zu jenem Gefühl des „Feststeckens“ beitragen, das für die Anhaltende Trauerstörung charakteristisch ist.
Abschnitt 4: Die gemeinschaftlichen und kommerziellen Dimensionen digitaler Trauer
Die Auseinandersetzung mit digitalen Andenken ist selten ein rein privater Akt. Sie findet zunehmend in öffentlichen oder kommerziellen Räumen statt, was die Natur der Trauer und der Erinnerung fundamental verändert. Soziale Netzwerke werden zu kollektiven Gedenkstätten, und eine neue Industrie, die „Grief Tech“, beginnt, den Tod und die Trauer zu einem Geschäftsmodell zu machen.
4.1 Trauern in der Öffentlichkeit: Soziale Medien als virtuelle Gemeinschaft
Plattformen wie Facebook, Instagram und TikTok haben sich zu legitimen und weit verbreiteten Orten der Trauer entwickelt.2 Sie verändern die Art und Weise, wie Trauer kommuniziert und erlebt wird, und bieten sowohl Chancen als auch erhebliche Herausforderungen.
Vorteile – Ein neuer Raum für die Trauer
- Gemeinschaft und Unterstützung: Soziale Medien können das Gefühl der Isolation in der Trauer verringern, indem sie Betroffene mit einem Netzwerk aus Freunden, Familie und sogar Fremden mit ähnlichen Erfahrungen verbinden.40 Sie schaffen einen Raum für gegenseitige Unterstützung und Anteilnahme.
- Kollektives Gedenken: Gedenkseiten oder -profile ermöglichen es, Erinnerungen, Fotos und Kondolenzbekundungen gemeinschaftlich zu teilen. Dadurch entsteht ein facettenreiches, kollektiv erstelltes Bild der verstorbenen Person, das über die individuelle Erinnerung hinausgeht.9 Diese Praxis ist eine moderne Form der gemeinschaftlichen Pflege fortbestehender Bindungen.14
- Niedrigschwelliger Ausdruck: Die gefühlte Anonymität oder Distanz des digitalen Raums kann es Menschen, insbesondere jüngeren Generationen, erleichtern, ihre Gefühle und Gedanken auszudrücken, für die sie in einem direkten Gespräch vielleicht nicht die Worte fänden.30
Herausforderungen – Die Fallstricke der öffentlichen Trauer
- Performative Trauer und sozialer Druck: Der öffentliche Charakter der Plattformen birgt die Gefahr der „performativen Trauer“, bei der sich Menschen unter Druck gesetzt fühlen, ein bestimmtes, sozial erwünschtes Bild ihrer Trauer zu präsentieren. Dies kann zu oberflächlichen oder unaufrichtigen Bekundungen führen und die authentische Verarbeitung der eigenen Gefühle behindern.46 Der ständige Vergleich mit den Trauerbekundungen anderer kann zusätzlichen Stress erzeugen.40
- Überwältigung und digitale Permanenz: Die Flut an Benachrichtigungen, Kommentaren und Erinnerungen kann überwältigend sein.38 Die dauerhafte Präsenz digitaler Gedenkstätten kann für manche zu einer Belastung werden und es erschweren, den Blick wieder nach vorne zu richten.39
- Konflikte und Kontrollverlust: Öffentliche Trauer kann zu Konflikten führen, wenn Außenstehende sich als enger verbunden darstellen, als sie es waren, oder wenn unangebrachte Kommentare gepostet werden.42 Die Privatsphäre kann verletzt und das Ansehen der verstorbenen Person posthum beschädigt werden.48 Ein besonders kritischer Aspekt ist der Kontrollverlust durch Algorithmen. Plattformen wie Facebook spielen mit Funktionen wie „An diesem Tag“ unaufgefordert Erinnerungen aus, die für Trauernde schmerzhaft und unpassend sein können.50 Der Rhythmus der Erinnerung wird somit nicht mehr vom Trauernden selbst, sondern von einem auf Engagement optimierten Algorithmus bestimmt.
4.2 Der Aufstieg der „Grief Tech“: Avatare, Chatbots und die Digital-Afterlife-Industrie
An der technologischen Front entsteht eine neue Branche, die als „Digital Afterlife Industry“ (DAI) oder „Grief Tech“ bezeichnet wird.44 Diese Unternehmen bieten an, aus dem digitalen Fußabdruck einer Person – ihren Fotos, Videos, Texten und Social-Media-Aktivitäten – interaktive Chatbots („Deadbots“) oder sogar fotorealistische Virtual-Reality-Avatare zu erschaffen, mit denen Hinterbliebene kommunizieren können.53
Ein therapeutisches Werkzeug oder eine „betäubende Droge“?
Diese Entwicklung wird von Forschern und Ethikern mit großer Sorge betrachtet. Die Interaktion mit einem solchen digitalen Abbild geht weit über die passive Betrachtung einer Fotografie hinaus. Sie transformiert die Erinnerung von einem privaten, inneren Prozess in ein öffentliches, co-konstruiertes und potenziell kommerzialisiertes Gut.
- Die „Edilife“-Studie: Eine zentrale Quelle der Kritik ist das deutsche Forschungsprojekt „Edilife“ der Universität Tübingen und des Fraunhofer-Instituts SIT. In Interviews äußerten Trauerbegleiter und Psychologen die Befürchtung, dass diese Technologien wie eine „betäubende Droge“ wirken können. Sie könnten Trauernde daran hindern, die Realität und Endgültigkeit des Verlustes zu akzeptieren, und somit den eigentlichen Trauerprozess blockieren.52 Die simulierte, zweiseitige Kommunikation mit einem Avatar lässt die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen und verhindert die notwendige Transformation der Beziehung.52
- Psychologische und ethische Risiken: Experten warnen vor der Entstehung emotionaler Abhängigkeiten von diesen digitalen Repräsentationen, die einen gesunden Abschiedsprozess behindern.53 Ein Avatar könnte zudem falsche oder verletzende Aussagen generieren, die alte Wunden aufreißen.55 Es stellen sich tiefgreifende ethische Fragen: Wem gehören die Daten nach dem Tod? Wie wird Missbrauch verhindert? Was geschieht, wenn ein Dienst eingestellt wird – bedeutet das einen „zweiten Tod“ für die Hinterbliebenen?53
- Der „technologische Fix“: Es besteht die Sorge, dass diese Technologien als einfacher „technologischer Fix“ für die komplexen menschlichen Erfahrungen von Einsamkeit und Trauer vermarktet werden. Dies mag für verletzliche Personen verlockend sein, adressiert aber nicht die eigentlichen Bedürfnisse des Trauerprozesses und birgt das Risiko der kommerziellen Ausbeutung in einer emotional labilen Phase.55
Die Entwicklung von der privaten Fotografie über die gemeinschaftliche Facebook-Gedenkseite bis hin zum kommerziellen KI-Avatar markiert eine tiefgreifende Verschiebung. Die Erinnerung an einen Menschen wird zu einem Datensatz, der von Algorithmen verwaltet, von Gemeinschaften mitgestaltet und von Unternehmen monetarisiert werden kann. Dies entzieht dem Trauernden die Kontrolle und Autonomie über seinen eigenen, intimen Prozess der Erinnerungsarbeit.
Abschnitt 5: Synthese und Empfehlungen für eine gesunde digitale Trauer
Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass die Nutzung digitaler Medien in der Trauer ein zweischneidiges Schwert ist. Es gibt keine pauschale Antwort darauf, ob sie förderlich ist. Der entscheidende Faktor ist, wie diese Werkzeuge genutzt werden. Dieser Abschnitt fasst die Erkenntnisse zusammen und bietet einen praktischen Rahmen für eine bewusste und gesunde Auseinandersetzung mit dem digitalen Erbe.
5.1 Ein Rahmen zur Selbstreflexion: Hilft es oder schadet es?
Um die eigene Nutzung digitaler Andenken einzuordnen, können Trauernde sich eine Reihe von Fragen stellen. Diese basieren auf der Unterscheidung zwischen einer gesunden, fortbestehenden Bindung und den Symptomen einer pathologischen Trauer.
- Frage der Funktion: Nutze ich diese Medien, um mich zu erinnern und die Person zu ehren, oder nutze ich sie, um die schmerzhafte Realität ihrer Abwesenheit zu vermeiden und zu verleugnen? Eine gesunde Nutzung dient der Integration, eine schädliche der Vermeidung.4
- Frage der Emotion: Führt die Auseinandersetzung letztendlich zu einem Gefühl des Friedens, der Dankbarkeit und der Verbundenheit? Oder hinterlässt sie mich regelmäßig in einem Zustand intensiver, unerträglicher Sehnsucht, Wut, Schuld oder Verzweiflung?24
- Frage der Kontrolle: Entscheide ich bewusst, wann und wie lange ich mich mit den Erinnerungen befasse? Oder fühle ich einen inneren Zwang, immer wieder hinzusehen oder hinzuhören, selbst wenn ich weiß, dass es schmerzt und mir nicht guttut?3
- Frage der Lebensauswirkung: Hilft mir diese Praxis, die Erinnerung an die Person in mein neues, gegenwärtiges Leben zu integrieren? Oder hindert sie mich daran, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren, soziale Kontakte zu pflegen und Zukunftspläne zu machen?3
Das Ziel ist nicht, die Verbindung zu kappen, sondern eine Form der Verbindung zu finden, die das eigene Leben bereichert und nicht lähmt.
5.2 Praktische Strategien für einen achtsamen Umgang
Basierend auf den Forschungsergebnissen und Erfahrungsberichten lassen sich konkrete Strategien für einen gesunden Umgang mit digitalen Erinnerungen ableiten:
- Grenzen setzen: Legen Sie bewusste Zeitfenster für die Beschäftigung mit sozialen Medien, Fotoalben oder alten Nachrichten fest. Dies verhindert eine ständige, unkontrollierte Konfrontation und schützt vor Überwältigung.40
- Rituale schaffen: Anstatt einer zufälligen und potenziell zwanghaften Nutzung kann es helfen, bewusste Rituale zu etablieren. Entscheiden Sie sich beispielsweise, Fotos gezielt am Geburtstag des Verstorbenen oder an einem anderen besonderen Gedenktag anzusehen. Dies gibt der Handlung einen Rahmen und einen Sinn.11
- Digitales mit Physischem ausbalancieren: Sorgen Sie für ein Gleichgewicht zwischen digitaler Erinnerungsarbeit und Offline-Aktivitäten. Pflegen Sie reale soziale Kontakte und suchen Sie auch physische Orte der Erinnerung auf, wie das Grab oder einen Ort mit besonderer gemeinsamer Bedeutung.2
- Den digitalen Raum kuratieren: Es ist vollkommen legitim, digitale Ordner mit Fotos für eine Weile „wegzupacken“ oder Social-Media-Profile, die schmerzhafte Erinnerungen auslösen, stummzuschalten oder ihnen zu entfolgen.20 Übernehmen Sie aktiv die Kontrolle über Ihre digitale Umgebung.
- Erinnerungen aufschreiben: Wenn Audio- oder Videoaufnahmen zu schmerzhaft sind oder nicht existieren, kann das Aufschreiben von Erinnerungen, typischen Redewendungen oder Anekdoten eine sehr heilsame Alternative sein. Das Schreiben fördert die kognitive Verarbeitung und Integration der Erinnerung, anstatt nur eine sensorische Re-Stimulation auszulösen.31
Die duale Rolle digitaler Andenken in der Trauer: Ein Leitfaden zur Selbstreflexion
Die folgende Tabelle fasst die ambivalenten Potenziale der verschiedenen Medienformate zusammen und bietet eine handlungsorientierte Frage zur Selbstreflexion.
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5.3 Die Notwendigkeit der digitalen Nachlassregelung
Ein oft vernachlässigter, aber praktisch entscheidender Aspekt ist die Regelung des digitalen Nachlasses. Ungeklärte Zugänge zu Online-Konten, Abonnements oder digitalen Guthaben können für Hinterbliebene eine erhebliche administrative, finanzielle und emotionale Last darstellen.57 Es ist daher dringend zu empfehlen, frühzeitig Vorsorge zu treffen. Dazu gehört die Erstellung einer sicheren Liste aller relevanten Konten mit Zugangsdaten und die Bestimmung einer Vertrauensperson mittels einer über den Tod hinaus gültigen Vollmacht.57 Dienste wie der Nachlasskontakt bei Facebook oder der Inaktivitätsmanager bei Google sollten genutzt werden, um den eigenen Willen festzulegen.61
5.4 Wann professionelle Unterstützung gesucht werden sollte
Selbstmanagement und Achtsamkeit haben Grenzen. Wenn die Trauer das Leben über Monate hinweg dominiert und die Fähigkeit zur Alltagsbewältigung stark einschränkt, ist professionelle Hilfe unerlässlich. Klare Anzeichen dafür, dass sich eine Anhaltende Trauerstörung oder eine andere psychische Erkrankung wie eine Depression entwickelt, sind:
- Die Unfähigkeit, nach vielen Monaten wieder Freude zu empfinden oder soziale Aktivitäten aufzunehmen.3
- Anhaltende und intensive Schuldgefühle, Wut oder emotionale Taubheit.3
- Das Gefühl, im Leben „festzustecken“ und ohne die verstorbene Person nicht weiterleben zu können.
In solchen Fällen sollte unbedingt die Hilfe eines Psychotherapeuten, eines Facharztes oder einer spezialisierten Trauerberatungsstelle in Anspruch genommen werden.3 Ressourcen wie die Telefonseelsorge bieten anonyme und jederzeit verfügbare Ersthilfe.28
Schlussfolgerung
Die Frage, ob das Betrachten von Fotos, Videos oder das Anhören von Sprachnachrichten Verstorbener für die Trauerbewältigung förderlich ist, lässt sich wissenschaftlich nicht mit einem einfachen „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Die Forschung zeichnet ein komplexes und ambivalentes Bild: Dieselbe Handlung kann, je nach Kontext, Funktion und innerer Haltung des Trauernden, sowohl eine heilsame Brücke zur Erinnerung als auch ein Anker sein, der in einer pathologischen Trauer gefangen hält.
Der entscheidende Faktor ist nicht der Akt des Erinnerns selbst, sondern dessen Auswirkung auf das gegenwärtige Leben des Hinterbliebenen. Die moderne Trauerpsychologie, insbesondere die „Continuing Bonds“-Theorie, legitimiert das Bedürfnis, eine andauernde Verbindung zum Verstorbenen zu pflegen. Digitale Medien bieten hierfür nie dagewesene, vielfältige und leicht zugängliche Werkzeuge. Sie ermöglichen es, Erinnerungen in lebendiger Form zu bewahren und Trauer gemeinschaftlich zu teilen.
Gleichzeitig zeigen klinische Studien, insbesondere zur Anhaltenden Trauerstörung, dass eine zwanghafte, sehnsuchtsvolle und den Alltag lähmende Beschäftigung mit diesen digitalen Andenken den Trauerprozess nicht fördert, sondern blockiert. Insbesondere die immersive Kraft von dynamischen Medien wie Videos und Sprachnachrichten sowie die neuen Möglichkeiten von KI-gestützten „Grief-Tech“-Anwendungen bergen das Risiko, die notwendige Akzeptanz der Realität des Verlustes zu erschweren und emotionale Abhängigkeiten zu schaffen.
Die zentrale Botschaft dieses Berichts ist daher eine der bewussten und selbstbestimmten Gestaltung. Es geht nicht darum, den Verstorbenen aus dem digitalen Leben zu verbannen oder ihm ein digitales Denkmal zu errichten, das den Trauernden in der Vergangenheit festhält. Das Ziel ist die Integration, nicht die Isolation der Erinnerung. Eine gesunde Auseinandersetzung mit dem digitalen Echo des Verlusts nutzt diese mächtigen Werkzeuge, um eine fortwährende Bindung zu gestalten, die das eigene, fortlaufende Leben bereichert, ihm Sinn gibt und Kraft spendet, anstatt es zu vermindern. Mit einem fundierten Wissen über die psychologischen Mechanismen, die Risiken und die Strategien für einen achtsamen Umgang sind Trauernde besser gerüstet, ihren individuellen Weg durch die komplexe Landschaft der Trauer im digitalen Zeitalter zu finden.
Referenzen
- Tod und Digitalisierung: Neue Studie zu Chancen und ... - SRF, Zugriff am Juni 27, 2025, https://www.srf.ch/news/schweiz/sterben-im-digitalen-zeitalter-wenn-der-mensch-geht-und-das-virtuelle-erbe-weiterlebt
- Digitale Trauerkultur: Die Trauer verändert sich! | FINK.HAMBURG, Zugriff am Juni 27, 2025, https://fink.hamburg/2022/12/digitale-trauerkultur-die-trauer-veraendert-sich/
- Anhaltende Trauerstörung - Wenn der Schmerz nicht enden will - Oberberg Kliniken, Zugriff am Juni 27, 2025, https://www.oberbergkliniken.de/krankheitsbilder/anhaltende-trauerstoerung
- Psychotherapie mit Trauernden - Beltz Verlag, Zugriff am Juni 27, 2025, https://www.beltz.de/fileadmin/beltz/leseproben/978-3-621-28684-8.pdf
- Grief Theories Series: Continuing Bonds Theory - Frazer Consultants, Zugriff am Juni 27, 2025, https://web.frazerconsultants.com/grief-theories-series-continuing-bonds-theory/
- Continuing Bonds: Shifting the Grief Paradigm - Whats your Grief, Zugriff am Juni 27, 2025, https://whatsyourgrief.com/continuing-bonds-shifting-the-grief-paradigm/
- Grieving Brain: Surprising Science of How We Learn From Love & Loss - YouTube, Zugriff am Juni 27, 2025, https://www.youtube.com/watch?v=V-dDg3hxrBs
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- Digitale Vorsorge, digitaler Nachlass: Was passiert mit meinen Daten? | Verbraucherzentrale.de, Zugriff am Juni 27, 2025, https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/digitale-welt/datenschutz/digitale-vorsorge-digitaler-nachlass-was-passiert-mit-meinen-daten-12002
- Digitaler Nachlass: So regeln Sie schon heute, was später wichtig wird - FOCUS online, Zugriff am Juni 27, 2025, https://www.focus.de/finanzen/digitaler-nachlass-so-regeln-sie-schon-heute-was-spaeter-wichtig-wird_4ce96900-9eba-4fba-847a-eadb0bcdc2f3.html
- Digitaler Nachlass - Der Umgang mit (s)einem digitalen Erbe - Erbrecht Siegen, Zugriff am Juni 27, 2025, https://www.erbrechtsiegen.de/digitaler-nachlass-der-umgang-mit-seinem-digitalen-erbe/
- Wie sorge ich für meinen digitalen Nachlass? | Sonntags - Sonntagsblatt, Zugriff am Juni 27, 2025, https://www.sonntagsblatt.de/artikel/psychologie-ratgeber/wie-sorge-ich-fuer-meinen-digitalen-nachlass
- Digitaler Nachlass: Umgang Mit Online-Daten nach dem Tod regeln - Schmitt & Haensler Rechtsanwälte Hennigsdorf, Zugriff am Juni 27, 2025, https://schmitt-haensler.de/blog/digitaler-nachlass-umgang-online-daten-regeln/
- Sterben und Trauern: Hier findest Du Hilfe! - Malteser, Zugriff am Juni 27, 2025, https://www.malteser.de/aware/hilfreich/hier-bekommst-du-hilfe-wenn-du-jemanden-verloren-hast.html